... Vor allem aber: ein Buch über die Transsibirsche Eisenbahn, das macht alle neugierig, die eine Reise auf dieser Strecke schon einmal unternommen haben – wie ich, vor 20 Jahren, im Linienzug im 4-Bett-Abteil, sieben Tage, sieben Nächte. Nicht nach Wladiwostok, sondern von Bielefeld nach Peking, also ab Ulan Ude südwärts durch die Mongolei. Auch nicht mit russischen, sondern mit chinesischen Waggons und mit chinesischer (männlicher) Besatzung, mit Ausnahme des russischen Speisewagens, der so aussah und in dem so gefeiert wurde wie von Wladimir Kaminer im Vorwort beschrieben.
Ich erinnere mich sehr gut, dass ich nicht viel über die russischen Städte wusste, in denen der Zug hielt: Perm, die “geschlossene Stadt” der Sowjetunion, große Städte in Ostsibirien, aber soo groß hatte ich mir z.B. Nowosibirsk nicht vorgestellt. Deshalb gefällt mir die Idee, Kinder und Erwachsene für Kinder und Erwachsene von ihrer Stadt und ihrer Region erzählen zu lassen, sehr gut. Auch, dass viele von ihnen in irgendeiner Weise mit der Eisenbahn verbunden sind. Allerdings kann eine Reisende, die von A nach B zielorientiert fährt , von vielem nichts sehen, meistens reichen die Haltezeiten nicht Mal für einen Blick auf den Bahnhof von außen. Dazu kommt, dass der Zug ohne jegliches akustische Zeichen weiterfährt!
Selbstverständlich suchte ich nach Bekanntem und fand vieles: zum Beispiel die Frauen, die beim Halt auf dem Bahnsteig Essen verkaufen, damals auf ALLEN Haltebahnhöfen und ohne Verkaufsstand: Piroggen, Pelmeni, Fische (dann musste ein See in der Nähe sein), fertig zubereitete Gerichte. Ich habe während der ganzen Tage nicht im Speisewagen gegessen, sondern wie die chinesischen Stewards mein Essen auf dem Bahnsteig gekauft.
Dann die unvergleichliche Strecke am südlichen Ufer des Baikalsees, es lohnt sich wirklich, sich dafür einen Wecker zu stellen, ein Tipp im Buch. Vergeblich die Mühe, sich mehr als 1000 m Tiefe vorzustellen, schneebedeckte Gipfel ringsum, Eisreste am Ufer mitten im Juni ...
Anderes habe ich vermisst: z.B. den Wagenmeister, der mit einem Hammer bei etwas längeren Halts alle Radkästen abklopft, das Kloing-Kloing war ein eindrücklicher “Soundtrack” während der ganzen Reise (und ist es noch heute). Oder: man sieht während der Fahrt viel viel unbewohnte Landschaft, aber auch viele Dörfer und Anwesen direkt an der Strecke, bei denen der Zug NICHT hält. Weil die Bahngleise erhöht verlaufen, schaut man von oben auf kaum befestigte Straßen und Höfe und Häuser, in denen Menschen und Tiere eng zusammen leben. Ich entdeckte fremdartige Friedhöfe im Wald – aber das wäre wohl ein anderes Buchkonzept.
Die Illustrationen, z.B. die Bild-Blicke ins Zuginnere, sind wunderbar detailreich und haben eine Menge Humor, eine schöne Idee, dass die Leserin einzelne Zugreisende die ganze Strecke im Blick behalten kann. Genauso lebendig gelungen die Stadt- und Dorfansichten unterwegs, die Häuser, Bahnhöfe ... Textfelder auf Illustrationen stören mich oft, hier erstaunlicherweise nicht, wohl, weil sie blau (im Farbspektrum) unterlegt und wie freihändig gezeichnet sind und wie Sprechblasen eingesetzt werden. Die Panoramaseiten am Beginn jedes Abschnittes wirken jede für sich wie ein stimmungsvolles Intro, zudem ist das Buch informativ und lehrreich, ja, das Glossar ist unabkömmlich!
Ich bin begeistert! Ein Sachbuch für alle, das in weit von uns entfernt liegenden Gegebenheiten das Gemeinsame betont – hier leben Menschen jeden Tag, mit Lieblingsorten, Lieblingstätigkeiten, mit Schule, Freizeit, Berufsträumen – und das Besondere, fremdartige – z.B. die Namen, die Historie, den speziellen Alltag im Zug – ganz selbstverständlich nimmt. Und eins, das viele Male zur Hand genommen werden kann.
Das Buch ist für den Jugendliteraturpreis 2022 in der Sparte Sachbuch nominiert.