Acht Arme vielleicht! Oder jemanden, der oder die mir schreibt. Oder möglicherweise einen Buchladen um die Ecke, der zur Not auch Nachts öffnet. Von solchen Vorstellungen handeln die folgenden (ursprünglich im Siggi-Magazin Nr. 19 erschienenen) Buchtipps – davon zu lesen, ist ja schon was!
Viele Grüße, deine Giraffe
Giraffe hat ein wunderbares Leben, trotzdem ist ihr langweilig: heute alles so wie gestern, Morgen alles so wie heute. Giraffe wünscht sich einen Freund, sie hat aber keinen richtigen. Und so lässt sie ihre Augen über den weiten Horizont schweifen und fragt sich plötzlich, ob nicht vielleicht dahinter ...?
Das ist das Intro, danach wird Giraffe aktiv! Sie schreibt einen Brief und bittet Pelikan, der vor lauter Langeweile beschlossen hat, einen Postdienst aufzumachen, den Brief zu befördern – zum ersten Tier, das ihm hinter dem Horizont begegnet. So gelangt der Brief zu Pinguin. Im Folgenden sind wir Leserinnen einmal bei Giraffe in der Savanne oder bei Pinguin in der Walsee. Beide haben noch nie eine Giraffe bzw. einen Pinguin gesehen, sie machen sich kuriose Vorstellungen vom anderen, immer schneller gehen die Briefe hin und her. Bis sich schließlich Giraffe zusammen mit Pelikan, mit dem sie jetzt fast alle dessen freie Tage verbringt, aufmacht, Pinguin zu besuchen. Ich wüsste nicht, dass jemals ein Buch für ganz junge SelbstleserInnen den deutschen Jugendliteraturpreis bekommen hätte – dieses Buch war in diesem Jahr eines der Preisträger und das zu Recht. Witzige Dialoge, Perspektivwechsel, Tempo, verschiedene Textsorten, Entwicklung der Figuren – das alles macht dieses gelungene Kinderbuch aus.
Das tiefe Blau der Worte
Ein merkwürdiger Titel, der einem nach der Lektüre ein wenig zu verschwurbelt vorkommt. Egal! Es gibt zwei spannende Hauptfiguren, die von großer Nähe (sie sind beste Freunde seit Kindertagen) über große Ferne wieder zu großer Nähe finden. Sie erzählen jeweils abwechselnd aus der Ich-Perspektive, was den LeserInnen einen tiefen Einblick in ihre Persönlichkeit ermöglicht. Trotzdem dreht sich ihre Erzählung nicht nur um sie selbst, Rachel und Henry sind tief verbunden mit dem, was um sie herum geschieht, auf schmerzliche und auf vertraute Art.
Örtlicher Mittelpunkt der Handlung ist "Howlings Books", das Antiquariat von Henrys Vater. Henrys Mutter möchte die Buchhandlung verkaufen, unvorstellbar für alle anderen. Denn hier treffen sich alle! Die Protagonisten, aber auch Henrys eigenwillige Schwester George, der neue Mitarbeiter Martin, Rachels Freundin Lola, Henrys geschiedene Eltern und Henrys Freundin Amy. Symbol für ihre Lebensform "Buchladen" ist die „Briefbibliothek“. Deren Bücher sind nicht zum Verkauf bestimmt, sie heißt so, weil man nicht nur Kommentare in die Bücher schreiben darf - ganze Briefe und allerlei Botschaften liegen zwischen den Seiten von Lyrik, Romanen und Dramen. Briefe an wen auch immer. Auch Rachel hatte, bevor sie mit ihrer Mutter wegzog, dort einen Liebesbrief für Henry hinterlassen, der nie beantwortet wurde. Jetzt ist sie wieder zurück, arbeitet in der Buchhandlung und begegnet Henry wieder, der erst herausfinden muss, für wen sein Herz vor allem schlägt. Rachel ist nicht mehr die von vor drei Jahren, der Tod ihres Bruders hat ihr den Boden unter den Füßen weg gezogen, sie hat ihren Abschluss nicht geschafft, und ob die Arbeit bei "Howlings Books" ihr Halt geben wird, ist ungewiss.
Ein Liebesroman für Jugendliche, eine wunderbare Geschichte übers Kommunizieren – wie schwer das ist, und wie leicht es sein kann, und wie schrecklich, wenn es ins Leere geht.
Emil
Schon seit einiger Zeit legt der Diogenes Verlag seine modernen Klassiker neu auf, meist in ausgesuchter Ausstattung – großformatig, mit Schutzumschlag und allem Pipapo. Neben den Büchern von Maurice Sendak und F.K.Waechter gilt das auch für Tomi Ungerers Werke, und so kommen wir Leserinnen wieder in den Genuss von „Emil“, dem Kraken mit den acht Armen, einem Bruder im Geiste der guten Schlange Crictor.
Emil ist ebenso freundlich und sowohl hilfsbereit als auch hilfreich in allen erdenklichen Lebenslagen! Er rettet Kapitän Samofar, dem berühmten Tiefseetaucher, das Leben, und erweist sich als Gast über der Wasseroberfläche als wahrer Zauberer. Emil vermag Harfe, Kontrabass und Schlagzeug gleichzeitig zu bedienen, als Bademeister fischt er gleich vier Kinder auf einmal aus dem Wasser und erfreut alle Badegäste mit seinen Verwandlungskünsten. Die Leichtigkeit, mit der Tomi Ungerer aus einem Kraken einen Stuhl, einen Schlitten oder ein Einhorn werden lässt, sucht ihresgleichen. Selbstverständlich wird Emil nach etlichen Heldentaten mit einem Festessen nach Hause ins Meer verabschiedet. Dass er mit acht Weingläsern zugleich prosten kann, ist textlich keiner Erwähnung wert, überhaupt erzählen vor allem die Bilder diese wundersame, charmante, freundliche Geschichte. Ein Bilderbuch-Schatz in meergrün …