„Es war einmal“ – so lautet die immergültige Märcheneröffnung. Im Fall zweier an dieser Stelle rezensierten Märchen-Bilderbücher beschreibt die Formel auch deren Alter auf dem Buchmarkt: Sie „war(en) einmal“ Neuerscheinungen …
ABC der fabelhaften Prinzessinnen
Nicht mehr neu, aber immer noch singulär – das gilt für Willi Puchners ABC der fabelhaften Prinzessinnen!
Prinz Willem, der „verspielte Jüngling“ sollte sich (so langsam) für Frauen interessieren. Das meint jedenfalls seine Familie, seine Vogelfamilie. Sie lädt Prinzessinnen aus aller Welt ein sich vorzustellen. Das führt zu einer phantastischen Vogelprinzessinnenprozession! Beginnend mit Prinzessin Apfelsine aus Aachen, aufrichtig, altmodisch und abergläubisch bis zu Prinzessin Zenobia aus Zürich, zielbewusst, zuversichtlich und ziemlich zufrieden.
Prinz Willem kann sich gar nicht entscheiden, das sei gleich mal verraten, wer kann es ihm verdenken? Ist doch eine Prinzessin schöner, eigener, exotischer, interessanter als die andere und alle haben Geschenke dabei.
Für Prinz Willem eine aufreibende Sache, für Leser:innen eine tolle Schau. Jedes Umblättern enthüllt eine Bildüberraschung auf der rechten Buchseite, die Alliterationen im Text auf der linken Seite werden mit viel Sprachwitz jedes Mal voll durchgespielt, vom Namen über Eigenarten und Vorlieben bis zum Geschenk. Rätselhaft und wunderlich, diese vogeligen, bodenlang königlich in die allerschönsten Farben gekleideten Prinzessinnen. Wer andere Bücher von Willi Puchner zu Gesicht bekommen hat, erkennt auch in diesem den Meister des Farbenmischens! Trägt Prinzessin Yoko aus Yokohama nicht einen Kimono? Was hat Prinzessin Jolanda aus Johannesburg mit dem Beil in der Hand vor? Was sind „irrwitzige Inder“? Und aha, das ist also ein Apfelstab …
Schade, dass Prinz Willem sich nicht entscheidet. Wir Leser:innen wollen es aber auch nicht, als wir am Ende danach gefragt werden.
2014 veröffentlichte Willi Puchner ein Pendent: „Das ABC der fabelhaften Prinzen“ mit froschigen Prinzen aus aller Welt!
Prinzessin Hannibal
„Es war einmal ein Prinz, der wollte lieber eine Prinzessin sein. Zwar wünschen sich Prinzen immer wieder mal dies oder das. […] Doch der Wunsch von Hannibal Hypolyt Hyazinth war anders. Blubbernder und brodelnder. Dringlicher und drängender. Heimlicher – und gleichzeitig unheimlicher.“ Denn nichts, was ein Prinz mögen sollte, zumal einer mit dem Bezwinger-Vornamen Hannibal, machte ihm Spaß.
König und Königin kommen als Berater:innen nicht in Frage, zuviel zu tun (Rohers Bilder, und nur die, zeigen, was das heißt), aber es gibt ja noch sieben Schwestern, allesamt Prinzessinnen. Prinz Hannibal fragt sich also durch: Wie kann ich eine Prinzessin werden?
Die Älteste ist abgeklärt. Willst du das wirklich? Sorgloses Prinzessinnendasein sei möglicherweise ein Märchen. Sie kenne eine Königstochter, die habe bei Zwergen den Haushalt machen müssen! Und die übrigen Schwestern? Sie empfehlen, eine Nacht auf einer Erbse zu schlafen, einen Frosch zu küssen und diesen sagenhaften gläsernen Pantoffel zu probieren ... Erst der Rat der beiden jüngsten eigenwilligen Schwestern elektrisiert Hannibal! Ob er denn nicht wisse, dass in jedem Prinzen sowieso ein Funken Prinzessin stecke, den man zum Lodern bringe könne?
Den Rest, Prinz Hannibals Coming-Out, erzählen Text und Bild in enger Verschränkung. Wie schon vorher füllen Michael Rohers Bilder – aus monochromen sattfarbigen Blättern klar geschnittene Collagen, in welche er Details mit Stiften hineinzeichnet – Textleerstellen, sie geben zusätzliche Informationen, z.B. lackierte sich der vielbeschäftigte König die Zehennägel, z.B. mit der bildlichen Charakterisierung der Schwestern, z.B. das Zusammensammeln von Rock, Schuhen, Mieder, schon dem Körper eingeschrieben .. Bühnenreif der Auftritt von Prinzessin Hannibal!
Das lustvolle Durchspielen einer Prinzessinnenwerdung entlang bekannter Märchenmotive und die daraus resultierende allgegenwärtige verhaltene Komik täuschen nicht darüber hinweg, dass hier eine Position zu fließenden Gendernormen, zu Transgender eingenommen wird: man kann wissen, was man fühlt, und man kann wählen, das zu leben, was man fühlt! Das Ende dieses Bilderbuches: ein Anfang.
Der Luftschacht Verlag hat diesen Titel, der seinerzeit mit einem Platz bei den „Besten 7 für junge Leser:innen“ ausgezeichnet wurde, im Sommer 2022 neu aufgelegt.
Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin
Seit seinem Erscheinen 2021 wurde „Der kleine Holzroboter und die Baumstumpfprinzessin“ mit Preisen ausgezeichnet, in Großbritannien, in den USA, in Frankreich. In diesem Sommer ist das Buch auf Deutsch erschienen und auch hier reißt das Lob nicht ab: Goulds Zeichnerkolleg:innen von Rotraut Susanne Berner über Jutta Bauer und Anke Kuhl sind restlos begeistert. Tom Gould ist „eigentlich“ Comic-Zeichner und – Autor, sein geometrisch-plakativer Stil unverwechselbar. Jetzt also: ein Märchenbilderbuch!
„Es waren einmal ein König und eine Königin, die herrschten über ein schönes Land. Doch sie hatten keine Kinder.“ Der Erzähler verzichtet auf fast jedes beschreibende, ausschmückende Wort, und das bleibt so bis zum Schluss der Geschichte. Das Beschreibende obliegt den Bildern.
Die königliche Erfinderin und die Hexe im Wald können Abhilfe schaffen und so werden gleich zwei Kinder „geboren“: Ein kleiner Holzroboter und eine Baumstumpfprinzessin. Freilich hat das neue Glück einen Haken. Wenn die Prinzessin einschläft, verwandelt sie sich in einen Baumstumpf zurück – jeden Morgen muss sie mit einem Sprüchlein entzaubert werden. Der Bruder erledigt das sehr zuverlässig, bis eines Morgens der Wanderzirkus zu Besuch kommt und er aus dem Schloss stürmt. Ach, zu spät fällt ihm ein, was er vergessen hat, das Zimmermädchen hat den Baumstumpf im Bett der Prinzessin schon entsorgt!
Wahrlich märchenhaft, dass dem kleinen Holzroboter auf seiner Suche in einer unübersehbaren Menge gleichartiger Baumstümpfe (einer ganzen Schiffsladung!) der EINE bekannt vorkommt! Der Rückweg zum Schloss mit dem Baumstumpf im Handkarren ist gefährlich. Die zahlreichen Abenteuer präsentiert uns der Erzähler lediglich per „Plakat“, wir müssen sie selbst auserzählen … Allein schon die Überschriften lassen glaubwürdig erscheinen, dass irgendwann die Gelenke und Scharniere des Holzroboters erschöpft sind. Mit letzter Kraft weckt er seine Schwester und jetzt ist es an ihr, den Rückweg fortzusetzen. Auch die Baumstumpfprinzessin erlebt viele Abenteuer, auch hier zu viele, um sie alle im Buch erzählen zu können: Die hinterlistigen Elfen, Der Spukbrunnen, Der Säugling im Rosenstrauch … Ja, und auf gar keinen Fall darf die Prinzessin einschlafen!
Es ist alles da in dieser warmherzigen Geschichte: Magie, ein Unglück, Mut, Empathie, Bewährung und Über-sich-hinauswachsen und der kleine Dreh, der, frühzeitig angelegt, am Ende für Rettung sorgt. Erstaunlich, wie gut die statische Bildsprache die Erzählung emotional stützt. Obwohl oft nur Schraffur und etwas Farbe die Figuren zeichnerisch differenzieren, sind sie äußerst präsent. Akkurate Panels, ebenso akkurat angelegte reich illustrierte Bühnenpanoramen (der "Tischlerschuppen" der königlichen Erfinderin), reduzierte Bildebenen (das Meer): Comic-Elemente dominieren die Bildwelt dieses Märchens.
Eigentlich hatte schon das Schlaglicht auf dem Cover, in dessen Kegel Holzroboter und Baumstumpfprinzessin Hand in Hand durch den Comic-Wald spazieren, geklärt: die beiden sind ein unschlagbares Gespann!